Über mich

Vor drei Jahren erschien der erste Band mit dem Ludwigshafener Hauptkommissar Hubert V. Zimmer und fand schnell seine Leserschaft. Nur wenig ist bisher über den Autor bekannt. Nach mehreren Anläufen ist es dem Neuen Krimi-Journal schließlich gelungen, mit PS ein Interview zu vereinbaren. Hier nun das Protokoll des Gespräches, das unser Redakteur Vitus Unterländer im September vergangenen Jahres mit ihm führte
N-K-J Ausgabe 5.September. V.U. Paul Siegfried

Zur verabredeten Zeit stehe ich vor einem zweiflügligen, schmiedeeisernen Tor am Ende der stillen Straße und suche vergeblich nach einer Klingel. Der hohe Zaun zu beiden Seiten der steinernen Flügelportale ist bis über die lanzenförmigen Spitzen mit Efeu behangen und verschwindet irgendwo seitwärts in den Büschen. Bevor ich noch dazu komme mich bemerkbar zu machen, taucht plötzlich ein gedrungener, nachtschwarzer Terrier vor mir auf und fixiert mich aus dunklen, leicht schräg gestellten Augen. Er gibt keinen Laut von sich, auch ich bin erst einmal sprachlos. Eine Weile stehen wir uns schweigend gegenüber, nur durch die verzierten Eisenstäbe wie durch ein Käfiggitter getrennt. Was nun? Zu meiner Erleichterung näherte sich aus dem Schatten unter den Bäumen eine Gestalt und kommt mit raschen Schritten auf mich zu. Der Hund wedelt verhalten mit dem Schwanz und behält mich unverändert im Blick. Geistesgegenwärtig repetiere ich in Gedanken noch einmal die biographischen Daten, die mir die Redaktion über PS heraus gesucht hat:


Jahrgang 1949, geboren und aufgewachsen in Frankfurt/Main. Dort Volksschule mit Abschluss 9.Klasse, abgebrochene Lehre als Chemiefacharbeiter in den Hoechster Farbwerken, irgendwann Buchhändlerlehre, wieder abgebrochen, diesmal wegen einer Tuberkulose, danach Hochschulreife an der Volkshochschule Northeim. Nach drei Semestern Germanistik in Göttingen, Existenz als Antiquitätenhändler und Restaurator, nebenbei freier Mitarbeiter bei einer kleinen Lokalzeitung in Nordhessen. Straßenmusiker und Kneipier, die letzten zwanzig Jahre im Weingeschäft, Schwerpunkt Italien. – Nichts für die Bewerbungsmappe, aber ordentliche Vita für einen spät berufenen Autor – denke ich mir, da ist er auch schon am Tor.

„Herr Unterländer? Paul Siegfried, kommen Sie rein!“

Nicht zu überhören die hessische Sprachfärbung, dunkles Hemd, Jeans, Brille, volles Haar, unrasiert. Mit einem singenden Quietschen wird das Tor ein Stück weit aufgezogen. Ich versuche, einen Schritt zu machen, aber der Terrier hat schon die Nase an meiner Hose und beschnüffelt mich ausgiebig. Auf kurzen, stämmigen Beinen, unverrückbar wie ein Amboss, lässt er keine Bewegung zu und ich muss zuerst seine Visite geduldig über mich ergehen lassen.

„So, Fritzi, iss gut jetzt. Sie haben doch keine Angst vor Hunden, oder?“

Ich brummele irgendwas von „ im allgemeinen nicht“, und folge PS über den Rasen. Fritzi läuft in einem eigenartig tänzelnden Gang aufmerksam neben uns her. Wir steuern auf eine roh gezimmerte, hölzerne Gartengarnitur unter dem Blätterdach eines mächtigen Ahorns zu. Ein südlich anmutendes Haus mit verwitterten Fensterläden und einer überdachten Veranda schließt das verwachsene Grundstück nach hinten ab.

„Nehmen Sie Platz, ich bin gleich zurück!“

Er verschwindet durch die offene Terrassentür ins Haus. Fritzi ist auf die Bank gegenüber gesprungen und lässt mich nicht aus den Augen. Mit einem Tablett in den Händen kommt PS zurück. Aus dem versilberten Kühler ragt der Hals einer geöffneten Weinflasche. Eiswürfel klirren, als der Hausherr das Tablett auf dem schweren Tisch abstellt und mir eines der schlichten Gläser reicht.

„Ein leichter Sauvignon Blanc von meinem Freund Piero aus dem Piemont“

„Ein Sauvignon aus dem Piemont? Höre ich zum ersten Mal.“

„Ja, auch dort hat er ganz hervorragende Bedingungen, mittlerweile ist er ja in der ganzen Welt zu Hause. Eine vornehme Rebsorte. In Übersee gerät sie oft zu üppig, besonders, wenn sie im Barrique ausgebaut wird. Ich finde, das steht ihr nicht. Der piemontesische Sauvignon ist mineralisch, mit schlanker Frucht. Ein idealer Wein für diesen schönen Spätsommer. Mögen Sie?“
Bevor ich antworten kann, hat PS mir schon eingegossen und lehnt sich in der Bank zurück. Fritzi hat sich neben ihm ausgestreckt, die Augen geschlossen. Ich rücke mein Diktiergerät auf dem Tisch zurecht.

Das Schwierigste, was es zu beschreiben gibt ist nicht das Außergewöhnliche, sondern das Normale. PS wirkt erst einmal durchschnittlich. Weder hat er den exaltierten Habitus eines Künstlers, noch vermittelt er etwas von der Anarchie, der eigensinnigen Renitenz, die manchmal in seinen Zeilen durchschlägt.

„Also“, beginne ich aus dem Stegreif, „man hat mir gesagt, dass es nicht ganz einfach ist mit Ihnen zu reden. Sie gelten als verschlossen und manchmal auch heftig. Stimmt das?“

PS schwenkt behutsam sein Glas und hält die Nase an den oberen Rand.

„Ist das schon das Interview? Sie haben Ihr Gerät ja noch gar nicht angestellt.“

Tatsächlich! Mit einem Schluck Wein überwinde ich meine Verlegenheit, drücke die Taste und fange noch mal an.

„Paul Siegfried, mögen Sie keine Interviews?“

„Das kommt auf meine Tagesform an. Schreiben ist ein mühsames Handwerk, darüber zu reden erst recht. Ich schreibe lieber.“

„Der Kommissar in Ihren Kriminalgeschichten heißt Hubert Vittorio Zimmer. Was hat es damit auf sich, ist er mehr Italiener oder Deutscher?“

„Beides. Mütterlicherseits italienisch, Sizilien genauer gesagt, der Vater deutsch, Ingenieur in der BASF in Ludwigshafen. Früh verstorben. Erinnern Sie sich; die ersten Gastarbeiter in den sechziger Jahren kamen häufig aus Italien, meistens aus dem Süden. Ich bin in unmittelbarer Nähe zu den Farbwerken Hoechst, heute heißen sie glaube ich anders, aufgewachsen. Beinahe jeder war dort in Arbeit. Auch mein Vater ging bald vierzig Jahre lang unter der Woche morgens durch das Tor West in seine „Rotfabrik“ und kam abends Schlag fünf wieder heraus. Auf einmal waren sie da, die damals sogenannten Gastarbeiter. Beladen mit Koffern und Kartons stiegen sie aus den vollen Zügen und bezogen die eilends errichteten hölzernen Baracken unten am Fluss. Auf dem täglichen Weg zur Schule mussten wir an ihnen vorbei und haben sie anfänglich nur bestaunt; die kleinen Leute, die dunklen Gesichter mit den Schnauzbärten, ihre Art zu sprechen, die fremden Lieder, bis dann die ersten Kontakte zustande kamen. Mit einigen von ihnen haben wir uns angefreundet. Sie haben lachend unsere kaputten Fahrräder repariert und wir haben sie mit Zigaretten versorgt, die wir mit einem Kamm aus den Schubladen der Automaten gefingert hatten. Vielleicht auch deshalb, wollte ich mit Zimmer nicht einfach nur einen landestypischen Charakter beschreiben, sondern dem Rheinland-Pfälzer Naturell eine mediterrane Leichtigkeit entgegen setzen. Zu manchen Jahreszeiten hat die Landschaft längs des Rheins ja durchaus auch etwas davon.“

„Trotzdem überwiegt bei Zimmer das eher Bedächtige. Seine Art die Dinge anzugehen, ist  eindeutig vom pfälzischen Temperament geprägt.“

„Ja, das stimmt, schließlich ist er ja auch hier aufgewachsen. Sein Hang zur Tagträumerei, die sinnliche Wahrnehmung von Umgebung und Atmosphäre, der er so gerne nachhängt, schreibe ich jedoch der südlichen Seite seines Wesens zu. Onkel Alfredo, der Bruder seiner Mutter, hat sich nach dem Tod des Vaters viel um ihn gekümmert. Das ist nicht ohne Wirkung geblieben. Dazu die ganze italienische Verwandtschaft, die Familie. Aber natürlich ist Zimmer zuerst ein Pfälzer vom Rhein und in dieser Herkunft auch verwurzelt.“

„Warum kommt Zimmer denn aus Ludwigshafen und nicht etwas aus Mainz?“

„Reine Strategie. Von Ludwigshafen aus kann er ganz Rheinland Pfalz bearbeiten, ich kann ihn in den hintersten Winkel des Landes schicken, vor allem in die versteckten Landstriche, die man sonst nie kennen lernt. Mainz ist zu nahe an der Tiefebene, er wäre bei seiner Arbeit immer in den Sog der großen Städte ringsum geraten. Mit Ludwigshafen selber bin ich gar nicht so gut vertraut, aber als authentischen Standort finde ich es geeigneter.“

Fritzi hechelt und zuckt im Schlaf mit den Beinen. Ich nehme noch einen Schluck von dem frischen Sauvignon und stelle mir den Autor als Zigarettenmarder im Schüleralter vor. War er der Anführer, oder hat er nur Schmiere gestanden?

„Sie schreiben also vorwiegend so genannte Regional-Krimis?“

PS wirkt leicht genervt.

„Ich halte nichts von dieser Zuordnung. Natürlich agiert Zimmer nicht in einem Niemandsland, sondern erst einmal erkennbar in der Pfalz und in Rheinhessen. Diesen Hintergrund ausführlich darzustellen, finde ich auch wichtig. Jede Region hat ihre eigene Mentalität, ihr Milieu, das muss auf alle Fälle deutlich werden. Eine Landschaft und ihre Menschen gehören ja zusammen. Wie immer kommt es dabei auf die Dosierung an, zuviel Lokalkolorit verengt die Handlung. Zimmer muss also nicht ständig irgendeine regionale Spezialität in sich hinein stopfen oder Straßennamen und Hausnummern notieren, nur um zu verdeutlichen, wo er sich gerade befindet. Es gibt auch so genügend Hinweise auf seinen momentanen Aufenthaltsort: die Küche, Bauwerke, Besonderheiten der Umgebung, der Dialekt; ich vertraue da einfach mal der Phantasie des Lesers. Ich kann mir Zimmer aber durchaus auch in anderer Umgebung vorstellen, vielleicht sogar einmal in Franken, oder zu Besuch an der Küste, wo er als Privatmann in einen Fall hineingezogen wird. Wer weiß. Ich wollte von Anfang an einen Kommissar, der zwar einen regional geprägten Charakter verkörpert, aber nicht andauernd darauf reduziert wird. Das erweitert den Handlungs-Spielraum, auch für mich. Denken Sie an Maigret. Der war auch im ganzen Land unterwegs, ohne seine Eigenheiten zu verleugnen. Das ist doch spannend. Stellen Sie sich einmal vor: ein Kommissar aus Ludwigshafen, ein Pfälzer mit italienischen Verwandten auch noch, ermittelt in der Leipziger Rotlicht Szene oder im hintersten Hunsrück. Was für eine Vorlage!“

Ich muss lachen, auch PS ist amüsiert und erfreut sich an seiner Idee. Wahrscheinlich hat er im Gedanken gerade schon den ersten Satz geschrieben. Fritzi klopft solidarisch mit der kurzen Rute auf die hölzerne Bank.

„Sie haben lange in Oppenheim am Rhein gelebt. Die erste Kriminalgeschichte spielt größtenteils dort. Ist ihr Zimmer eine Hommage an diese Zeit?“

„Ja, aber weniger an die Zeit, als an die Region. Letzten Endes ist es meine Heimat, der Sprachraum, in dem ich aufgewachsen bin, ob nun auf dieser oder der anderen Uferseite. Die Orte meiner Kindheit sind immer in der Nähe.“

„Der Main oder der Rhein. Welches ist Ihr Schicksals-Fluss“?

„Zuviel Pathos! Schicksal ist ein schweres Wort. Aber sie haben mich ein Leben lang begleitet. Immer wieder bin ich zu ihnen zurückgekehrt, so auch jetzt. Ein paar Schritte von hier fließt der Main, einer von beiden ist also immer in meiner Nähe geblieben. Davon abgesehen, bin ich auch oft und gerne am Rhein. Es hat sich nichts verändert.“

„Sie mögen keine Veränderungen?“

„Schwer zu sagen. Veränderung hört sich so absichtlich an, geplant, wie etwa der Entschluss auszuwandern. Es waren eher Brüche die mich in Bewegung gebracht haben. Erst viel später habe ich sie als eine wirkliche Veränderung begriffen.“

„Und jetzt wohnen Sie in Unterfranken.“

„Ja, aber noch immer am Main und nur eine gute Autostunde von Frankfurt und Rheinhessen entfernt.“

Wir schweigen einen Moment, das Diktiergerät rauscht leise. Ich suche nach Inhalten.

„Im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Kriminalromanen fließt bei Ihnen wenig Blut. Es gibt keine geheimnisvollen Ritualmorde oder dergleichen Grausamkeiten, die Geschichte beginnt meist harmlos. Trotzdem liest man sich unversehens fest. Was bedeutet für Sie Spannung?“

PS zieht seine Brille ab und sieht mich mit zwinkernden Augen an.

„Sie haben Ihre Frage eben schon selbst beantwortet. Sie lesen sich fest, also sind Sie neugierig auf das Buch, auf seine Handlung, Sie wollen wissen, wie es weiter geht. Das ist für mich Spannung!“

„Keine abgetrennten Köpfe, aufgespießt in Astgabeln, keine Ritualmorde?“

„Nein, niemals. Derart monströse Details stumpfen irgendwann ab. Sie ermüden, und der Autor muss immer schärfer nachlegen um das einmal eingeschlagene Tempo zu halten. Das gelingt selten. Die Schweden, Sjöwall und Wahlöö zum Beispiel, mit ihrem melancholischen Kommissar Beck, lange vor Henning Mankell, konnten das ganz gut bevor sie tausendfach kopiert wurden. In unsere rationale Gemütslage passen solche Mysterien nicht. Mich beschäftigen die gewöhnlichen Katastrophen, die aus den Unordnungen und Lügen entstehen mit denen wir uns alle durch das Leben helfen. Die enden aber mitunter genauso schrecklich.“

„Sehen Sie sich mit Ihrer Art zu schreiben in einer bestimmten Tradition?“

„Nein, kann ich selber so nicht sagen. ich versuche eigentlich nur die Wörter festzuhalten, bevor sie mir wieder entfallen. Eine verzwickte Sache, die man erst einmal mit sich selber ausmacht. Ich weiß nicht wohin diese Reise geht, schon gar nicht kenne ich ihren Ursprung. Jedenfalls, die Poesie der Erinnerung ist mir wichtig; Landschaft, Stimmung, die Magie eines bestimmten Augenblicks, der uns ohne eigenes Zutun für immer im Gedächtnis bleibt. Erinnerung ist überhaupt alles, im Leben wie im Schreiben. Humor muss sein, Witz und Tempo bei den Dialogen. Der Rest ist ein Handwerk wie jedes andere. Aber keinen bemühten Plot um jeden Preis. Unsere alltägliche Welt ist ungeheuerlich genug.“

„Die Figuren in Ihren Erzählungen erinnern gelegentlich an Charaktere aus einem Drehbuch, einem Bühnenstück. Die Konflikte, an denen sie scheitern oder auch wachsen, könnten ebenso aus der klassischen Tragödie stammen. Sind Sie ein Romantiker? Oder eher ein Realist, ein Intellektueller?“

„Das Schöne am Kriminalroman ist, dass er sich dem üblichen Bewertungssystem des Literaturbetriebs entzieht. Es gibt nur gute oder schlechte Krimis, entweder sie fesseln oder nicht. Wenn Sie den Romantiker im historischen Sinn meinen, bin ich gerne einer. Ohne diese Epoche hätte es keine März-Revolution  gegeben, keinen nationalen Idealismus und übrigens auch nicht einige der schönsten Gedichte in unserer Sprache. Realismus? Für mich heißt das vor allen Dingen die Augen offen zu halten, wach zu sein; den Geschehnissen, anderen Menschen und sich selbst gegenüber. Eine recht simple Haltung eigentlich. Ein Intellektueller bin ich, wenn überhaupt, ganz zuletzt. Intellekt alleine bewirkt noch nichts. Ich bin sowieso kein besonders analytischer denkender Mensch, sondern folge eher meinem Instinkt. Schreiben ist ja auch eine Form von Selbsterfahrung, falls man es ehrlich meint. Wenigstens wäre das eine schöne Erklärung für dieses einsame Vergnügen. Sie bewegen sich mit Ihrer Frage übrigens gerade auf das strapazierte Klischee von den Schubladen zu, in die sich angeblich niemand hineinpressen lassen will.“
PS spricht betont ruhig, geduldig. Seine überraschende Offenheit hat etwas diplomatisches und nimmt mir den Wind aus den Segeln. Hätte ich ihn lieber schwierig, verschlossen? Ich versuche einen Schnellschuss.

„Zimmer und die Frauen?

„Ist nicht von zentraler Bedeutung.“

Die spontane Reaktion lässt mich aufhorchen. Bin ich hier auf eine verborgene Schwäche gestoßen, ist das sein wunder Punkt?

„Immerhin hat er eine Tochter, die öfters erwähnt wird; zurückhaltend zwar, aber trotzdem interessiert man sich natürlich für die näheren Umstände. Was ist mit ihrer Mutter? Carola, wenn ich mich recht erinnere?“, versuche ich ihn aus der Reserve zu locken.

PS nimmt einen Schluck Wein und klappt Fritzi nachlässig ein Ohr zurück, das nach hinten gefallen war. Über uns blitzen die Sonnenstrahlen zwischen den Blättern des hohen Ahorns hindurch wie flackernde Irrlichter. Habe ich den Bogen überspannt, bin ich zu weit gegangen?

„Ich will ehrlich zu Ihnen sein“, entgegnet er unerwartet gelassen, „nicht alles ist einem von vornherein bewusst, wenn man zu schreiben beginnt…“

Ich unterbreche ihn.

„Sie haben sehr spät damit angefangen?“

PS dreht das Glas in seinen Händen und sieht mich nachdenklich an.

„…ja, vor etwas über drei Jahren. Nachdem ich aus verschiedenen Gründen meinen Weinhandel aufgeben musste und plötzlich sozusagen mit mir alleine war. Damals empfand ich zunächst eine stille Leere, ohne das Geschäft, die Ansprache, die ständigen Telefonate. Heute weiß ich, dass das eine glückliche Zäsur war, ohne die ich niemals zu schreiben begonnen hätte. Um auf Ihre Frage zurück zu kommen. Vieles an Zimmers Gestalt war gewiss schon vorhanden und ich trug es mit mir herum, ohne davon zu ahnen. Anderes entwickelt sich noch, das gilt gerade für sein Verhältnis zu Frauen. Ich weiß nicht, wie es da mit ihm weiter geht: lasse ich ihn alleine, verfällt er einer Liebe, entpuppt er sich am Ende gar als erotischer Flaneur? Das wahre Abenteuer ist immer noch das Abenteuer mit sich selbst. Das gilt auch für Zimmer. Insofern bin ich mit Ihnen gespannt. Davon abgesehen, schreibe ich keine Beziehungsromane sondern Kriminalgeschichten. In „Zimmer und der Fuchs im Baum“ können Sie im Übrigen sehr genau nachlesen, was es mit der gemeinsamen Tochter auf sich hat.“

Richtig. Ich erinnerte mich an die Abschiedsszene mit Carola auf der Dachterrasse ihres Ferienhauses in Lissabon. Traurig und in ihrer Sprachlosigkeit so endgültig, das man sie als Leser aus reiner Selbsterhaltung gleich wieder verdrängt. PS gehört zu den sympathischen, aber dennoch schwer zugänglichen Gesprächspartnern. Ab und zu seufzt er tief, als stände er unter einem inneren Druck. Ich stochere ein wenig im Nebel.

„Haben sie einen Entwurf, eine Skizze, wenn Sie eine Erzählung beginnen?“

„Nein. Die Sätze fügen sich, einer nach dem anderen. Ich denke nicht voraus, irgendwann ahne ich dann, wie es weitergehen könnte.“

Er schlägt die Beine übereinander und schaut über mich hinweg. Mit manchen Autoren über ihre Bücher zu kommunizieren ist gelegentlich so ertragreich, wie das Angeln mit einer zu kurzen Schnur. Man kommt nicht tief genug, besonders, wenn sie so wenig darstellerische Ambitionen zeigen wie PS. Bestimmt könnte man mit ihm durchaus angenehm plaudern, stelle ich mir vor: über italienischen Wein, über Literatur, Küchengeheimnisse oder Hunde, nur nicht über ihn selbst. Ich muss an ein Interview denken, dass ich vor einiger Zeit mit einem bekannten Soziologen über Jugendkriminalität geführt habe. Er wusste alles; Zahlen, Fakten, Statistiken, regionales Gefälle usw. und redete ununterbrochen. Aber er hatte keine Ahnung von dem Milieu, das ihm seine sorgfältig addierten Daten erst lieferte. Er war einfach nur ein Bürokrat des gesellschaftlichen Elends, um das er selbst bisher immer einen weiten Bogen gemacht hatte. Bei den Personen in Paul Siegfrieds Geschichten hatte ich dagegen gleich das Gefühl, dass ihr Wesen, ihre Substanz, seiner persönlichen Erfahrung entsprachen, ja entsprechen mussten. Waren sie „ein Stück von ihm?“
…der einsame Außenseiter Dominik, der dunkle, katzenhafte Mirco, der harmlos dröge Helmuth „Don Momento“, Daniel und die anderen vom Motorradclub aus dem ersten Band, dem „Fuchs im Baum“. Der verzweifelte „Eagle Eye“ Benno in seiner Angst um die quirlige Johanna, genannt „Blümchen“, Wolf und Ramazotti, die Musiker aus der betreuten Wohngemeinschaft, im zweiten, streckenweise verstörenden Fall: „Zimmer und die Blumen des Kaisers“, und dann der zappelige Manni Göthe und sein großer Indianerfreund Jockel, aus dem vergnüglich unterhaltsamen „Ortstermin“. Allesamt Figuren, die aus ihrer sympathischen Hilflosigkeit eine eigensinnige Stärke entwickeln und die bei aller Konfusion dennoch eine Hoffnung mit sich trugen. Ich nehme einen neuen Anlauf.

„Lassen Sie uns über Ihre letzte Erzählung, den „Ortstermin“ reden. Im ersten Moment dachte ich auch hier an einen Kriminalfall, dabei entpuppte sich die kleine Geschichte als ein äußerst unterhaltsamer Rundgang durch das alte Karlstadt. Wie sind Sie darauf gekommen?“

PS lacht in sich hinein und gießt nach. Wir heben die Gläser und ich spüre eine angenehme Schwere und Erleichterung zugleich, so paradox das auch klingen mag; als hätten wir gerade eine schwankende Brücke genommen und ständen wieder auf festem Boden.

„Ja, das hat Spaß gemacht! Eigentlich kam mir die Idee dazu, als ich einen bestimmten Laden suchte und mich wieder einmal in dem Gassengewirr der Altstadt verrannte. Auch nach fast fünf Jahren passiert mir das noch manchmal. Während ich also planlos um die Ecken strich und mir die alten Häuser und versteckten Höfe ansah, dachte ich mir, wie schön es jetzt wäre einen kundigen Begleiter neben sich zu haben, der die ein oder andere Anekdote dazu wüßte. Natürlich gibt es Tourismusprospekte und umfangreiche historische Literatur über Karlstadt, es werden Führungen angeboten und wer will, kann sich im Internet informieren. Aber würden Sie sich nicht auch lieber von einem ortsansässigem Kenner der hiesigen Szene und Historie die Stadt zeigen lassen? Von einem versierten Kneipengänger und Liebhaber der fränkischen Küche, der mit den Besonderheiten des Milieus vertraut ist und die wirklich interessanten Geschichten kennt?“

„Deshalb auch die Kochrezepte aus der hiesigen Gastronomie.“

„Die angenehmste Art eine fremde Umgebung zu erkunden. Wenn Sie Glück haben, und das richtige Gasthaus finden, erfahren Sie dort schon fast alles wesentliche, was die Region ausmacht.“

„Sind die Personen im Ortstermin erkennbar, leisten Sie sich Indiskretionen?“

„Natürlich nicht! Das sind Prototypen, wie es sie in jeder Kleinstadt gibt. Sie bewegen sich in einem abgegrenzten, überschaubaren Radius, zwangsläufig trifft man sich dabei ständig wieder. Einzig ein bekanntes Wirtsehepaar ist porträtiert, zu ihrer Freude übrigens wie mir zugetragen wurde, allerdings nur für Einheimische erkennbar. Und einen lokalen Kulturschaffenden habe ich seiner markanten Erscheinung wegen flüchtig skizziert. Die Schauplätze sind jedoch authentisch, auch die Lokale, die in der Handlung eine Rolle spielen. Lediglich ihre Namen habe ich verfremdet, aber sie sind leicht zu finden.“

„Dabei ist Ihnen auch noch nebenbei eine schöne Liebesgeschichte geraten. War das beabsichtigt, die Sache mit der blonden Beatrice?“

Unversehens waren wir schon wieder bei den Frauen. PS schüttelt den Kopf.

„Nein, das ist mir erst beim Schreiben eingefallen. Der junge Volontär Dux kommt im Auftrag seines Blattes für eine Reportage nach Karlstadt und findet in Bea Amthor jemanden, der ihn durch die Stadt führt. Das ist ja auch die Absicht des Büchleins. Das er sich dabei ein wenig in die junge Frau verliebt und sie schließlich am Ende des Rundgangs küsst, geschieht beinahe zwangsläufig, war mir aber anfänglich nicht klar. Da ging es mir wie Zimmer. Der weiß ja auch nie so genau Bescheid über sich und die Liebe, aber wer weiß das schon? Hatten wir das Thema nicht bereits?“

„Ja, stimmt.“

Ich schiebe schnell die nächste Frage nach.

„Wie geht es mit Zimmer weiter? Gibt es bald einen neuen Ortstermin?“

Fritzi setzt sich auf, gähnt und kratzt sich mit dem Hinterlauf am Ohr wie ein Hase. PS gießt den Rest Sauvignion nach und zupft jetzt ebenfalls an seinem Ohr. Merkwürdig. Stimmt es also doch, dass sich Mensch und Hund mit der Zeit aneinander ähnlich werden? Es wird kühler, ein leichter Wind streicht über unsere Köpfe.

„Bestimmt. Zimmer ist bereits in neuen Schwierigkeiten und den Ortstermin mache ich auf alle Fälle noch einmal.“

„Wieder ein Rundgang durch fränkische Gassen?“

„Warum nicht? Oder anderswo. Die Kulisse muss stimmen und der Ort muss eine interessante Geschichte haben. Schauen wir mal!“

PS scheint langsam das Interesse zu verlieren. Ich ziehe meine letzte Karte, das beliebte „überleg nicht lange“ Spiel.

„Noch ein paar schnelle Fragen und Sie antworten in Stichworten oder sagen weiter“

„Meinetwegen.“

„Ihr Lieblings-Schriftsteller?“

„Weiter.“

„Musik?“

„Morgens Klassik, dann alles.“

„Ort?“

„Die Stille.“

„Jahreszeit?“

„Jetzt.“

„Sie können gut…?“

„Zuhören.“

„Sie können nicht gut…?“

„Rechnen.“

„Getränk?“

„Im Winter Rotwein, im Sommer Weißwein oder Apfelwein aus der Rhön.“

„Gericht?“

„Königsberger Klopse.“

„Auto?“

„Auf alle Fälle französisch“

„Blume?“

„Rose.“

„Farbe?“

„Herbstlaub.“

„Tier?“

„Esel.“

Esel! Ich komme aus dem Konzept, eigentlich hatte ich Hund erwartet, war mir sogar sicher. Fritzi scheint unbeeindruckt und ich fasse mich wieder.

„Freundschaft ist für Sie…?“

„Treue“

„Liebe?“

„Auch“

„Ihr Ziel?“

„Spiritualität und Gelassenheit.“

„Ja, das war es schon!“

PS schaut mich erleichtert an und sieht auf die Armbanduhr. Der Hund spürt den Aufbruch und verharrt in aufrechter Haltung. Ich stelle das Diktiergerät aus.

„Eine letzte Frage noch. Was ist mit den Reden, den Stücken und Gedichten, die Sie auf Ihrer Website nennen. Etwa eine Dienstleistung, die Sie anbieten?“

PS antwortet ohne Scheu.

„Sie haben recht. Das ist der blanke Broterwerb, selbst ein später Dichter braucht sein Auskommen. Aber keine Sorge; auch diese Arbeit macht Spaß und hält mich in Form. Ich würde solche Auftragstexte eigentlich jedem Autor empfehlen. Man schult dabei sein Repertoire und es ist ein ehrenwerter Verdienst. Schließlich schreibe ich ja keine politischen Brandreden oder Muttertagsgedichte.“

Er lacht bei seinen Worten; über sich selbst oder über mich? Fritzi ist von der Bank gesprungen und streckt sich. Ich räume mein Zeugs zusammen. Das Interview kommt mir seltsam unfertig vor, wie abgebrochen oder besser noch, wie aufgegeben. Ich kippe den letzten Schluck Sauvignon im Stehen hinunter und lasse mir von PS eine Bezugsquelle für den Wein nennen. Wenigstens ein greifbares Ergebnis, das ich von hier mitnehme. Immerhin. Manche Dinge lässt man einfach am besten wie sie sind und packt sie bei passender Gelegenheit noch einmal an beschließe ich im Stillen, während wir über den Rasen nach unten gehen. Fritzi trottet gelassen voraus. PS schweigt. Auch mir ist nicht nach einer unverbindlichen Konversation zumute. Unten angekommen zieht er den Torflügel auf und reicht mir die Hand.

„Es war sehr angenehm mit Ihnen. Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder?“

„Bestimmt. Möchten Sie vielleicht das Gespräch vor der Veröffentlichung autorisieren? Wäre für mich kein Problem.“

Er winkt ab.

„Lassen Sie mal. Gesagt ist gesagt, dazu muss man stehen.“

Ich hatte nichts anderes von ihm erwartet und trete durch das Tor. Gleich darauf höre ich das vertraute, singende Quietschen hinter mir und als ich mich noch einmal umdrehe, sehe ich die beiden schon unter den Bäumen verschwinden. Ich schultere meine Tasche und laufe die staubige Straße hinunter zum Auto, über mir die flammende Abendsonne. Alles ringsum glüht noch einmal auf bevor es Nacht wird. Das Leben, ein Traum? Das Schreiben?